Wir sind alle Jäger. Wir jagen alle nur unterschiedliche Dinge.
(Der vorliegende Text wurde auf Facebook von Jochen Sauter veröffentlicht. Das Copyright des Textes liegt bei Florian Asche, jenes des Bildes bei Stephan Wunderlich.
Text darf hier mit freundlicher Genehmigung von Jochen Sauter veröffentlicht werden.)
Selbst in unserer aufgeklärten Zivilisationsgesellschaft zeigt schon ein einfacher Spaziergang ...durch die Einkaufspassagen der Städte, welche tiefen Triebe in uns noch vorhanden sind. Betritt beispielsweise eine Frau ihr Lieblingsschuhgeschäft, dann ist sie in diesem Moment keinesfalls eine Sammlerin.
Der Sammler unserer frühen Steinzeitgesellschaften eignete sich dem jeweiligen Fund einfach nur nach dessen Gattung und der Einstufung „essbar“ oder „nicht essbar“ an. Die Jagd des modernen Kulturmenschen richtet sich hingegen auf den ganz besonderen Gegenstand seiner Wünsche. Es müssen genau die Schuhe sein, die zur Jägerin passen, die ihr „Ich“ in angemessener Weise unterstreichen. Insofern zeichnet auch die „Kulturbeute“ etwas Individuelles und Unverwechselbares aus, so unverwechselbar wie der Rehbock, dem wir im Revier nachstellen. Auch der kritische Pfad, der die Jagd kennzeichnet, ist durchaus in den Städten und Straßen gegeben. Wie leicht kann eine Mitbewerberin das richtige Schuhpaar ihrer Freundin vor der Nase wegschnappen. Möglicherweise gibt es die geliebten Highheels mit der roten Sohle gerade nicht in der passenden Größe. Auch der Jagdtag einer modernen Großstadtfrau kann durchaus erfolglos enden.
Wie hartnäckig unsere Jägeranlagen sich auch in der modernen Zivilgesellschaft halten, wird beispielsweise am Fehlschlag des „papierlosen Büros“ deutlich. Der Drang des Menschen, sich seine Beute körperlich zuzueignen, bricht sich im Ausdrucken und Abheften von E-Mails und PDF Bahnen. Das haptische Erlebnis des knisternden Papiers ersetzt dabei das Gefühl des warmen Wildkörpers auf der Tragestange.
Wir Wildtöter lächeln natürlich ein wenig über diese Entkörperlichung der Jagd. Wir wollen das reale Leben, das Schwitzen, das Schauen, das Hoffen. Und am Ende steht der reale Tod, die reale Beute, die wir anfassen, fühlen, bewundern und nach Hause tragen können. Wenn wir dann mit Familie und Freunden am ganz realen Tisch sitzen und den Wildbraten aufschneiden, dann wirkt das wie ein Gegenentwurf zur anhaltenden Sublimierung der Jagd bei den modernen Zivilisationsmenschen.
Wie weit deren Abkoppelung von der Wirklichkeit geht, wird deutlich, wenn man den neuesten Streich fernöstlicher Virtualität betrachtet. Mit „Pokémon Go“ bietet Nintendo ein allgemeines Jagdformat an, das im Dschungel der Großstädte kleine Phantasiegestalten erstehen lässt, die man suchen, finden und fangen kann. Vielleicht erinnern Sie diese Mini-Monster noch auf kleinen Kärtchen, die Ihre Kinder und Enkel sammelten. Sie kosteten ein Höllengeld und wurden auf jedem Schulhof getauscht. Schon damals war uns Alten nicht klar, warum „Sumplex“ stärker als „Dragoran“ sein sollte. Doch wirken die Pokemonkarten der vergangenen Dekade geradezu altertümlich, gemessen an der neuen Generation der „augmented reality“. Quasi eine Art assyrischer Keilschrifttafel. Heute glotzt jeder Pokemon-Jäger auf sein Smartphone, um Wesen zu fangen, die nur in der Phantasie eines ostasiatischen Multikonzerns existieren. Sogar eine Art „Reiz- und Lockjagd“ bietet dieses Format. Man kann ein Pokemon mit bestimmten Modulen zu einem bestimmten Ort lotsen, um es dort „zur Strecke zu bringen“. Natürlich stirbt das Pokemon dabei nicht. Man nutzt es lediglich, um seine eigene Kraft zu erweitern. Der Tod ist in dieser Welt verboten.
Der Erfolg ist gigantisch. In kürzester Zeit hat es Pokémon Go zu Millionen Großstadtjägern gebracht, die an allen möglichen und unmöglichen Orten dem bunten japanischen Phantasiewild nachstellen. Die gesamte Medienwelt hallt wieder von starken und stärksten Pokémon. Wasser-Pokémons besiegen Feuer-Pokémons und verschaffen dem Jäger Punkte und Boni, um seine persönliche Strecke zu bemessen. Sogar im seriösen Fokus findet sich eine Liste der stärksten zehn Pokémon. Auf diese Weise führt das Internet den modernen Menschen in eine zunehmende Körper- und Bedürfnislosigkeit. Schließlich gibt es all die erkämpften Fabeltiere, um die es im Pokémon-Wettstreit geht, überhaupt nicht. Sie bestehen aus Daten, leichter als Luft.
Am Ende steht ein fortschreitender Realitätsverlust. Das nicht Existente wird als die Welt erlebt, der alle Aufmerksamkeit gilt. Millionen Menschen vertrauen damit ihre Lebensenergie dem Nichts an. Gerade in dieser Impotenz und absoluten Folgenlosigkeit, liegt der wesentliche Unterschied im Vergleich zum Handeln in der Realität.
Wie soll man jemandem die Jagd erklären, dessen einzige Beute das Nichts ist?