Heute morgen, es ist Sonntag, fand ich mich schwitzend, völlig durchnässt und frierend um acht Uhr morgens im Wald wieder. Der deutsche Wetterdienst hatte eine Unwetterwarnung herausgegeben, den
Wald sollte man tunlichst meiden. Es sei zu gefährlich im Wald, am besten, man bliebe daheim.
Ich stolperte mehr schlecht als recht diesem orangen Bändchen hinterher, an dessen anderem Ende eine langsam, aber stetig suchende Weimaranerhündin hing, zwischen uns lief noch ihr
Herrchen.
Der Boden war tief, es regnete, meine Warnweste und meine Regenjacke hatte ich noch vor dem ersten Kaffee daheim gelassen - vergessen.
Nachts um eins hatte ich einen Anruf verpasst, Sau angeschossen ab, morgen früh wird nachgesucht. Eben dort stand ich jetzt. Nachsuche, Traum und Alptraum gleichermassen.
Traum, weil es das wohl intensivste Erlebnis ist, das man mit seinem Hund teilen kann. So jung wie ich bin, so sehr wünsche ich mir, dass ich mich eines Tages geprüfte Nachsuchenführerin
schimpfen darf.
Alptraum, weil eine Nachsuche heisst, dass ein Tier nach dem Schuss nicht sofort gefunden wurde. Jäger werden gerne als schiesswütige, betrunkene Idioten dargestellt, aber unter mir lief mein
Jagdkollege, völlig durchnächtigt, Ringe unter den Augen, den eigenen Hund an der Strippe mit gefurchtem Gesicht. Der hatte keine gute Nacht gehabt - die Sorgenfalten in seinem Gesicht zeichneten
ein deutliches Bild.
Die Sau war in den Steilhang gezogen, den die Weimaranerhündin nun mit ihrem Vierpfotenantrieb ohne zu hecheln bergan ging. Wir unzulänglichen Zweibeiner hinterher, nur einige wenige Blutstropfen
verrieten uns, dass die Weimaranerhündin auf dem richtigen Weg war das verletzte oder tote Tier zu finden. Was uns dort erwarten würde - ungewiss. Nachsuchen sind immer unberechenbar, selbst
eindeutige Zeichen können täuschen. Beide Hunde, der Korthals Griffon und der Weimaraner waren aber auf der richtigen Fährte- trotz widrigster Wetterbedingungen, Regen, Schneematsch, tiefem,
schlammigen Boden, Sturm über uns- war beiden der Eifer anzusehen.
Meine Beageline, die ebenfalls gerne ihre Nase benutzt, fiel mir ein, sie musste im Auto warten, zu gefährlich für einen nicht wildscharfen Hund sich mit einem eventuell lebendigen und
wahrscheinlich nicht hocherfreutem Wildschwein anzulegen. Sie durfte sich nochmal einrollen und weiterschlafen.
Früher war ich Sonntags nie vor zehn, meistens aber nicht vor elf Uhr
aus dem Bett gekrabbelt, seit ich nun aber eine Jagdgelegenheit gefunden habe, kann ich mir an sehr wenigen Finger abzählen, wie oft ich morgens noch ausgeschlafen habe. Ob es mir fehlt?
Vielleicht, andererseits sind die Erlebnisse und Eindrücke, die ich -ohne Waffe- zur Jagd mache, so unglaublich, dass ich mich frage, was ich früher mit dieser Zeit angefangen habe. Da man
im Wald leise sein sollte, hat man viel Zeit sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ich denke anfangs, wenn ich allein unterwegs bin, immer viel nach, denke Gedankenstränge fertig, denen man sonst
nie nachhängen kann, bis es irgendwann still ist im Kopf.
Heute morgen war es aber immer still in der Murmel, einen Schritt vor den nächsten, möglichst wenig stolpern. Jedes Knacken im Unterholz bringt die angespannten Nerven zum Vibrieren, aber
die Weimaranerhündin blieb besonnen und ruhig, sie hat Erfahrung, weiss, was sie erwartet. Manchmal schaut sie mit vorwurfsvollem Blick zu uns zurück, wenn es wieder nicht schnell genug den
Steilhang hinauf geht, unzulängliche Zweibeiner, aber sie ist gütig und wartet, bis Herrchen wieder steht und es weitergehen kann. Diesen beiden bei der Nachsuche zuzusehen lässt mir die Tränen
in die Augen steigen, genau das, für die Möglichkeit mit meinem Hund so nah zu arbeiten, dafür würde ich viele Dinge in meinem Leben aufgeben.
An einem dicken Stamm wird die Weimaranerhündin zum ersten Mal unruhiger, geht mehrmals um den Baum herum, Herrchen nimmt sie zurück, weist ihr nochmals den Weg. Aber sie ist sich sicher, an
diesem Stamm ist etwas faul. Siehe da. Etwa zwanzig Meter unter uns liegt ein totes Wildschwein, später stellt sich heraus, dass es eine junge Bache war, sie muss praktisch sofort nach dem Schuss
tot gewesen sein und ist nur noch ca. 100 Meter weiter gelaufen, bereits klinisch tot. Banges Aufatmen. Die erste Sau wäre gefunden. Eventuell wurde aber eine zweite getroffen. Wir durchkämmen
den Wald in Zweiergruppen noch weitere anderthalb Stunden. Nichts. Kein Anschuss, kein Blutstropfen, die Hunde sind nicht mehr mit vollem Herzen dabei. Ein letztes bisschen Unsicherheit bleibt
immer, aber beide Hündinnen sind erfahren auf Nachsuchen, das Gelände wurde von beiden weiträumig abgesucht, nichts.
Eigentlich wäre ich jetzt bereits fürs Bett, nachher geht es zum Schiessstand, aber das Schwein muss versorgt werden, wenn wir den Hauch einer Chance haben möchte, dass das Fleisch geniessbar
bleibt.
Totes Wild muss eigentlich sofort versorgt werden, die Eingeweide, das sogenannte Gescheide, muss sorgfältig entfernt, bei Schweinen eine Trichinenprobe genommen und beim Landratsamt abgegeben
werden, damit man das Fleisch verzehren darf und kann. Der Wildkörper speichert die Wärme, die dafür sorgt, dass das Fleisch ungeniessbar wird, verhitzt. Pro Stunde geht die Temperatur nur um 1°
Celsius zurück - wieder etwas gelernt.
In der Wildkammer folgt die Ernüchterung, das Fleisch ist ungeniessbar. Die Sau war so klein, war es richtig, bis zum nächsten Morgen zu warten, und damit das Fleisch aufs Spiel zu setzen? Diese
Frage hat sich sofort gestellt, andererseits: Nachts, allein nur mit dem Hund einem Wildschwein zu begegnen, das einem nicht wohl gesonnen ist? Schweine sind sehr wehrhaft, jedes Jahr werden
viele Menschen und Hunde bei Zusammentreffen mit ihnen verletzt, manche sterben. Nein, dieses Risiko wäre eine Nachsuche auf eigene Faust mitten in der Nacht nicht wert gewesen.
Warum ich zur Jagd gehe? Weil mich heute morgen kein Traum so hätte
fesseln können, wie diese Nachsuche, weil mir wenig so viel Motivation verleiht, wie die Jagd. Ich fühle mich, auch (noch) ohne Jagdschein, am richtigen Ort. Es entspringt meiner tiefsten
Überzeugung, dass die allermeisten Jäger Gutes tun, sie bilden die Brücke zwischen wilder, alter Natur und neuen Anforderungen an unsere Umwelt. Es obliegt ihnen eine zerbrechliche Balance zu
schaffen, in einem Lebensraum, an dem praktisch nichts mehr natürlich ist. Schiessen, ja, schiessen gehört sicher dazu. Es ist der kleinste Teil der Aufgabe und ein sehr schmerzhafter, wie meine
Schulter mir heute Abend meldet.