Es ist September, im Kanton Bern ist die Gamsjagd im Gange.
Vom 10. - 30. September darf jeweils von Montag bis Samstag in dafür vorgesehenen Gebieten gejagt werden. Da nicht jeder Jäger vor der Haustüre auf Gamsjagd gehen kann, sind Diskussionen und Konflikte vorprogrammiert.
Analog der Rotwildjagd werden «fremde» Jäger nicht gerne gesehen im «eigenen Revier». Vor meiner Haustüre ist die Gamsjagd nach zwei Jahren ohne Jagd seit zwei Jahren streng reguliert. Auch ich muss also fremdgehen.
Seit meinem ersten Jagdjahr versuche ich mich unter anderem im Schilthorngebiet. Ich hatte auch einige Jahre eine Alphütte gemietet, konnte daraus jedoch keinen Vorteil ziehen. In diesen Jahren war es meist sehr warm im September und ich musste mit meiner Beute sofort zurück ins Tal, konnte nicht am Berg bleiben. Auch meine berufliche Situation hat eine mehrtägige Gamsjagd mit Hüttenromantik nicht erlaubt.
Wir haben einen wunderschönen Herbst und der Wetterbericht ist gut, gut für den Jäger – bewölkt, kein Regen, nicht so warm. Nachdem ich bei meinem ersten Anlauf zusammen mit dem Jungjäger den Bock erlegen konnte, plane ich einen Alleingang.
Ich brauche die Weite der Berge nach tagelangem Ansitzen auf Rotwild in (m)einem Graben.
Ich bin nicht mehr zwanzig und bin von einer schmerzhaften unfallbedingten Arthrose im Knie- und Fussgelenk geplagt. X Mal packe ich den Rucksack ein und aus. Brauche ich das wirklich? Ich entscheide mich, das Spektiv zuhause zu lassen und nur mit dem Feldstecher mit Distanzmesser auszurücken. Das heisst, dass ich auf einen Jährling aus bin, nicht auf eine trockene Geiss. Diese könnte/sollte/dürfte ich nur mit dem Spektiv ansprechen. Einen Jährling traue ich mir zu alleine zu bergen und hinunterzutragen. Ich stehe voll und ganz hinter dieser Entscheidung. Ich habe schon stundenlang auf einen Kollegen gewartet, der mir beim Bergen des Bockes helfen musste. Ich hatte mich in der Grösse verschätzt und hatte keine Chance, den 28kg Brocken alleine auf die Schultern zu laden, geschweige denn ins Tal zu tragen.
Mit dem Nötigsten im Rucksack -
Apotheke, Messer, Plastiktüten, Chiffonet, leichte Pellerine, ein Merinoshirt zum Wechseln, «Büro» (Patent, Abschusskontrolle, Brasselet, Kugelschreiber, Lesebrille), zwei Müsliriegel und ein Stück Speck, eine grosse Flasche Wasser und eine Thermosflasche mit Kaffee, Ersatzschuhbändel (auch zum Zusammen-binden der Läufe), Zweibein, Feldstecher - begebe ich mich zur Schilthornbahn.
Der Rucksack fühlt sich immer noch schwer an, obwohl nichts Überflüssiges mehr drin ist…. Die Touristen, die bereits früh unterwegs sind, bestaunen unsicher die Frau in bergtauglicher Sportkleidung, mit grünem Rucksack und einem Gewehr.
Unglaublich – ein Gewehr in der Gondelbahn!
Ich sehe wohl eher aus wie ein Wanderer, der auf Krawall aus ist, als wie eine Jägerin. Die Chinesen machen munter Fotos, die Araber möchten mir die Waffe am liebsten aus der Hand reissen und betatschen, also die Waffe... Der Kabinenführer kennt mich und plaudert mit mir über die Jagd. In Mürren verlasse ich die Gondel und ziehe los Richtung Alp. Magazin geladen, Feldspiegel um den Hals, bereit…. ab hier kann mir jederzeit ein Stück Gamswild begegnen um diese Tageszeit. Wanderer sind keine unterwegs, Jäger erstaunlicherweise auch nicht. Ich geniesse den ruhigen frischen Morgen. Auf der Alp schaue ich bei den Hüttenjägern vorbei, bekomme auch meinen Kaffee und wir plagieren ein bisschen, spiegeln die Umgebung ab. Da ihr Kollege links im Graben liegt, beschliesse ich, rechts über die Lücke zu gehen.
Jetzt bin ich oberhalb der letzten Hütten, die Zivilisation in Sichtweite und doch alleine auf der Welt, ganz klein und unbedeutend in dieser unglaublichen Bergkulisse.
Das Wetter ist jagig, aber ausser Böcken und Geissen mit Kitzen, schön paarweise, sehe ich keine Gams auch nur annähernd in jagdbarer Entfernung. Das grosse Rudel mit den Jährlingen ist ganz oben am Grat. Ich kann es sehen, von der Lücke aus. Da ich mich nicht über den Abhang mit hohem, nassen Gras runtergetraue, gehe ich der Skipiste entlang um den Berg.
Ich habe alle Zeit der Welt.
Im Boden angekommen, frage ich den Aelpler, ob ich durch die Mutterkuhherde hindurch darf. Ich habe einen grossen Respekt vor Kühen mit Kälbern, auch ein Grund, weshalb ich meinen Hund nicht dabei habe. So steige ich hoch in die Seite, bis zum oberen Schafweg; um die grosse schwarze Kuh mache ich wie geraten einen grossen Bogen. (Schaf)Weg ist übertrieben - steht man drauf, sieht man, dass man da gehen kann. Ich kann die Gämsen bis auf 110m angehen, mal wieder auf den Knien, auf dem Bauch, hoffentlich fährt jetzt keine Gondel oben drüber – was für ein Bild! Rucksack auf einem Stein, Gewehr darauf, bequem dahinter – aber es sind drei Pärchen Geiss mit Kitz. Sie haben sich gelegt und ich schleiche um die Felsnase, um zu schauen, ob sich nicht doch noch irgendwo ein Jahrtier versteckt. Leider ist da keins und die wachsame Geiss hat mich entdeckt und das kleine Rudel ist auf und davon – hoch hinauf in die Felsen.
Ich geniesse den Anblick und die grandiose Aussicht. Ach ist das Leben schön!
Es tut gut, mal wieder alleine draussen zu sein, die Unsicherheit und die Schmerzen zu ignorieren.
Es ist früher Nachmittag, Müsliriegel und Speck sind gegessen, die Flaschen leer, die Gämsen für mich ausser Reichweite. Ich könnte jetzt hier ein paar Stunden warten, bis die Tiere gegen Abend wieder hinunterkommen. Gamsjagd ist für mich aktiv, ich versuche möglichst nahe an die Tiere heranzupirschen, ich mag nicht warten, bis sie zu mir kommen - deshalb breche ich die Jagd ab.
Nach dem Abstieg zurück zum Boden – meine am letzten Jagdtag verlorene Sonnenbrille habe ich nicht wiedergefunden - wandere ich zurück nach Mürren.
14 km hat das GPS am Abend angezeigt und mein Körper schrie nur noch nach heissem Badewasser und einem kühlen Bier!
Ich habe den Tag im Gebirge genossen, die Ruhe, die Blumen, die Aussicht, die Wildheit, pfeifende Murmeltiere, den Bartgeier und die Bergdohlen.
Gamsjagd vom Feinsten!
Ich bin mir bewusst, dass es ein Privileg ist, auf diese Art und Weise Gamsjägern zu dürfen, einfach alleine loszugehen, das Gebiet selber zu wählen, den Tag, das Tier selber auszusuchen, die volle Verantwortung zu tragen, ohne Führer, ohne Begleitung. Niemand sagt mir, dass das Tier passt, die Distanz passt, der Moment zum Schuss passt!
Das ist meine Hochjagd!