© Story by Waldläufer
...oder warum ich eine Trophäe aufhänge!
Anfangs August lud ich eine junge Bekannte, die Julia, als Gast zur Bockjagd ein...
Nachdem sie unsere Herbstjagd mehrmals besucht hatte und sogar eine Geschichte dazu geschrieben hatte... wollte sie unbedingt auch mal eine Bockjagd erleben, auch wenn natürlich nie garantiert werden kann, was an solch einem Tag alles passieren mag... von nichts bis eben solche Jagdtage wie diesen! Aber auch ein Jagdtag mit "Nichts" ist doch immer noch ein wunderbarer Tag...
Nachdem ich sie abholte, entschied ich mich kurzfristig für einen anderen Ansitzplatz, da beim ursprünglich geplanten die Wiese davor erst kürzlich gemäht worden war.
Leider war auf diesem Hochsitz nur Platz zum Sitzen für eine Person, aber dank der grossen Plattform durfte sie stehen und ich sitzen. Das Recht des Älteren halt...
Wir sassen kaum oben - ich gab ihr gerade noch für den Fall der Fälle Verhaltensanweisungen - da trat auch schon ein Bock links aus dem Wäldchen auf circa 120 Metern aus. Und was für ein spezieller!
Eine Stange schien in der Mitte gebrochen zu sein, die andere dafür sehr schön ausgebildet... ein ursprünglich starker 6er.
Das Gewehr liess ich zunächst noch stehen, und wir beobachteten in Ruhe genüsslich den über die Wiese ziehenden Rehbock. Schnell zog er über den Weg nach rechts in eine Bodenvertiefung und äste kurz... da legte er sich auch schon hin und fing an gemächlich wiederzukäuen.
Etwa 10 Minuten lang schauten wir ihm beim wiederkäuen zu, als mir plötzlich weit oben im Hang ein dunkler Punkt am Waldrand auffiel... zunächst dachte ich mir, dass wohl ein weiteres Reh, allenfalls eine Geis, ausgetreten sei... ich nahm den Feldstecher hoch und nahm den Punkt näher in Augenschein...
Wer soll dieser weitere, unverhofft erscheinende Gast sein?
Hmm... ein seltsames Bild... so sieht doch kein Reh aus?
Eine riesige sitzende Gestalt...?
Du meine Güte, dass ist doch ein Luchs!
Aufgeregt wies ich Julia darauf hin...
Fasziniert schauten wir nur noch auf den Luchs, der da sass und die Fläche unter ihm mit Argusaugen beobachtete... wir waren hin und weg! Was für ein Moment, einen Luchs in freier Natur so beobachten zu können... augenscheinlich war er auf der Jagd... das ist schon sehr aussergewöhnlich!
Kurz setzte ich mein Fernglas ab um nach dem immer noch liegenden Bock zu schauen, als mir linker Hand am Waldrand eine Bewegung auffällt... ein weiterer Rehbock tritt an der gleichen Stelle wie der Bock zuvor aus! Ein Spiesser...
"Was ist denn heute nur los?" denke ich mir.
Ich mache Julia auf ihn aufmerksam. Sie freut sich riesig, dass sie solch ein Glück hat, gleich beim ersten Ansitz so eine Action geboten zu bekommen!
Ich selbst bin gerade etwas baff... bewundere ganz verdattert die eindrückliche Szenerie vor mir, als Julia plötzlich aufgeregt sagt:
"Du, der Luchs kommt runter direkt auf uns zu!!"
"Was? Echt jetzt?" kommt es fast etwas zu laut von mir zurück.
Tatsächlich... schnurgerade und in wahnsinnig schnellem Tempo... aber ohne zu galoppieren oder zu rennen, läuft er direkt auf den eben erschienen Rehbock zu. Man sieht ihm die Spannung, den Jagdinstinkt, den Willen das Reh zu reissen direkt an!
"Pass auf!" sage ich zur Julia... nehme mein Gewehr hoch und mache ihr klar, dass ich versuchen werde den Bock vor dem Luchs zu erlegen. Irgendwie lässt es mein Kopf, mein Instinkt gerade nicht zu, dem Luchs den Rehbock einfach so zu überlassen. Gäste sollten sich nicht so verhalten...
Das Schicksal des Bocks scheint besiegelt... entweder der Luchs oder ich!
Dieser ahnt vom Ganzen nichts... spürt nicht den nahenden Luchs, der bereits die geteerte Strasse erreicht hat und jetzt ganz langsam wird... ganz tief an den Boden drückt er sich... wird perfekt durch das hohe Gras gedeckt. So gross wie er mir erscheint, muss das ein Kuder - ein männliches Stück - sein. Es müssen für ihn noch etwa 60-70 Meter bis zum Bock sein...
Derweil liegt der erste Rehbock unbeeindruckt in seiner Kuhle... und äst weiter vor sich hin. Er kriegt von der ganzen Dramatik einen Steinwurf von ihm entfernt auf Grund des bei ihm abfallenden Geländes nichts mit. Weder kann er den anderen Bock und den Luchs erblicken, noch können die beiden ihn im Gras liegend ausmachen.
Das Gewehr nun im Anschlag... der Leuchtpunkt auf dem äsenden Rehbock... ich bin bereit!
Aber noch steht er nicht breit... er hält gerade schräg auf den Weg zu.
Mein Blick wechselt immer vom linken zum rechten Auge... das linke sieht den Luchs, wie er langsam immer näher kommt... - vielleicht noch 50 Meter?? - das rechte beobachtet durch das Zielfernrohr den Rehbock.
Die Momente ziehen sich hin... erscheinen mir in meiner Anspannung wie Minuten, wie Stunden...
Mein Leuchtpunkt fährt auf dem Blatt mit...
Da!
Er hebt den Kopf...
hört was...
dreht sich nach links...
steht breit!
Es passt!
Unbewusst krümmt sich mein Finger...
die Kugel fliegt...
Er zeichnet!
Springt in Richtung des Luchses ab...
schon erfasst ihn die Schwäche...
lässt ihn darnieder liegen...
Es ist vorbei.
Ich atme auf.
Kann nicht fassen, was gerade passiert ist...
So schnell ging alles...
Der Luchs bleibt einige Moment auf seinen Hinterläufen sitzen... schaut etwas ungläubig auf die nun leere Wiese vor ihm... und entschwindet im nahen Wald, als hätte es ihn nie gegeben...
Derweil legt sich der erste Bock wieder hin und macht mit dem Wiederkäuen weiter.
Ihn geht das Ganze schliesslich nichts an...
Diese Geschichte ist nun mit der Trophäe des erlegten Rehbocks verknüpft...
der Grund, warum ich diese Trophäe in Ehren bei mir zu Hause aufhängen werde!
Die Trophäe wird mich tagtäglich an diesen eindrücklichen Augenblick meines Lebens erinnern, an den Anblick von zwei wunderbaren Rehböcken und einen jagenden Luchs...
an den Wettstreit zwischen ihm und mir...
an die unglaubliche Spannung...
an das unausweichlich scheinende Schicksal des Rehbocks und an die Gleichgültigkeit des ersten Rehbockes...
Die Erinnerung an den Spiesser lebt mit der Trophäe weiter.
Waidmannsheil, ein Waldläufer